Das Ende der Allheilmittel

von Erik Raidt, 24.11.2014 – Stuttgarter Zeitung

Mein Stuttgart 2014: Robert-Bosch-Krankenhaus
Besondere Einblicke: am Robert-Bosch-Krankenhaus wird geforscht. © factum/Weise
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Matthias Schwab erzählt, wie Medikamente entwickelt werden. © factum/Weise

Zu Gast an einem Ort der Hoffnung, aber auch an einem Ort der Angst und der Trauer: Die Teilnehmer des Stadtspaziergangs von Stuttgarter Zeitung und Stiftung Geißstraße kommen ins Robert-Bosch-Krankenhaus (RBK), das einst von jenem Unternehmer gegründet wurde, der selbst einen besonderen Blick auf die Medizin hatte: Robert Bosch glaubte an die Homöopathie, er trug aus Überzeugung wollene Wäsche. Michael Kienzle, Vorstand der Stiftung, begrüßt die Stadtflaneure am Samstagmorgen und erinnert daran, dass die Geschichte des Robert-Bosch-Krankenhauses ‘in eine Zeit wichtiger Gründungen fiel’, auch die Waldorfschule nahm damals ihren Betrieb auf.

Doch die Besucher machen an diesem Tag nur einen Kurzausflug in die Geschichte – in dieser Reihe der Stadtspaziergänge geht es schließlich um die Zukunftswelten der Stadt. Einen wichtigen Schlüssel für eine solche Zukunftswelt besitzt Matthias Schwab. Der Professor leitet das Dr. Margarete-Fischer-Bosch-Institut für Klinische Pharmakologie am RBK – er arbeitet in einem Bereich, der mit darüber entscheiden könnte, wie viele von jenen Patienten, die ein Krankenhaus mit Ängsten betreten, dieses künftig wieder hoffnungsvoll verlassen können.

Matthias Schwab forscht an individualisierten Arzneimitteln. Es geht – vereinfacht gesagt – darum, dass ein und dasselbe Medikament in einer Standarddosis bei verschiedenen Patienten völlig unterschiedlich wirkt. ‘Wenn man vorher die Erbsubstanz eines Patienten kennt, dann kann man für ihn das genau dazu passende Medikament auswählen’, erzählt Matthias Schwab. Es gebe neben den genetischen Verschiedenheiten bei Menschen weitere Faktoren, die darüber entscheiden, welches Medikament in welcher Dosis geeignet sei: sein Alter, sein Geschlecht, sein Gewicht, der Umstand, ob er viel Alkohol trinkt und womöglich raucht. Ein ‘individualisiertes Medikament’ berücksichtige all diese Einflussfaktoren. Es passt – im Idealfall – zum Patienten wie der Schlüssel ins Schloss.

Die Stadtspaziergänger machen sich auf in eine naturwissenschaftliche Wunderwelt, für sie stehen Kurzausflüge in die Medizin, die Chemie und die Biologie auf dem Plan. Sie sehen im RBK hochauflösende Mikroskope, sie erfahren, wie Chemiker aus minimalsten Mengen bestimmte Stoffe nachweisen können. Sie laufen durch endlos lange Klinikgänge, treffen im Untergeschoss eine hochspezialisierte Expertin, die im Licht von Neonröhren und unter Abluftrohren mit Hightech-Instrumenten Gewebeproben untersucht.

Zwischendurch gibt es mit Matthias Schwab einen kurzen Zwischenstopp im Fachbereich Wirtschaftswissenschaften: ‘Schätzen Sie mal, wie viel die Entwicklung eines neuen Medikaments im Durchschnitt kostet?’, fragt er in die Runde. ‘Vielleicht zehn Millionen Euro?’, mutmaßt einer der Teilnehmer und verfehlt damit den wahren Betrag deutlich: Es sind rund eine Milliarde Euro. Es geht weiter mit Matthias Schwab, zurück in den Bereich der Medizin und konkret in jenen Raum des RBK, in dem klinische Studienarbeit unternommen wird – in dem neue Medikamente getestet werden.

Der Weg von der Forschung bis zur Markteinführung ist lang. Schwab steht vor leeren Betten, in denen an anderen Tagen jene Patienten liegen, die sich freiwillig für eine Medikamentenstudie gemeldet haben. ‘Erst erproben wir ein neues Mittel an gesunden Menschen und fangen mit minimalen Dosen an – später nehmen wir auch kranke Patienten in die Studie mit auf, um die Wirksamkeit der Medikamente zu untersuchen.’ Der Mediziner, der auch den Lehrstuhl für Klinische Pharmakologie an der Universität Tübingen innehat, ist sich bewusst, dass die Pharmaindustrie und auch die Entwicklung neuer Medikamente immer wieder kritisch in der Öffentlichkeit betrachtet werden. Er redet deshalb über die strikten Auflagen der zuständigen Behörden, über die Kontrolle durch den Ethikrat und darüber, wie eng das Kontrollsystem bei solchen klinischen Studien sei.

Vor allem aber spricht Matthias Schwab über Kinder, die an Leukämie erkranken. Er steht jetzt in einem Vortragsraum des Krankenhauses, der Projektor zeigt eine Folie an der Wand: Zwei der Verlaufskurven weisen deutliche Unterschiede auf – im Jahr 1966 lebten fünf Jahre nach der Diagnose nur noch zehn Prozent jener Kinder, die an Blutkrebs erkrankt waren. Im Jahr 2007 waren nach dem gleichen Zeitraum noch 94 Prozent der Kinder am Leben. Die Überlebenschancen der Kinder haben sich dramatisch verbessert – für Matthias Schwab eine Folge von passgenaueren Medikamenten.

Viele Teilnehmer an diesem Stadtspaziergang kennen sich aus in der Medizin – sie fragen gezielt nach Risiken und Nebenwirkungen, nach ganz speziellen Therapien. Dann neigt sich die Tour durch die Medizin dem Ende entgegen.

Eines ist klar: das Thema wird künftig noch wichtiger werden. Dafür sorgt allein schon der demografische Wandel: ‘Je älter Sie werden’, sagt Matthias Schwab, ‘desto mehr Medikamente schlucken Sie.’