Multikulti ist längst Realität
von Thomas Braun, 19.10.2015 – Stuttgarter Zeitung

Stuttgart Woran erkennt man am schnellsten, ob sich in einer Stadt verschiedene Kulturen etabliert haben? Natürlich an der Gastronomie: In der Landeshauptstadt wird international gekocht – das reicht von Stuttgarts ältestem Döner-Stand Beykebab an der Marienstraße bis zum vietnamesischen Restaurant an der Tübinger Straße. Beim Stadtspaziergang, der gemeinsam von der Stiftung Geißstraße und der Stuttgarter Zeitung veranstaltet wird, wurde aber am Samstag auch deutlich: Der Mix der Kulturen in der Stadt ist längst nicht mehr nur auf die Küche beschränkt.
Sami Aras, der Vorsitzende des Forums der Kulturen, ist selbst ein klassisches Beispiel für die Integration von Menschen ausländischer Abstammung in die Stuttgarter Stadtgesellschaft. In der Osttürkei geboren und kurdischer Abstammung, kam er mit 17 Jahren nach Stuttgart, wo der Vater bereits beim Daimler als Gastarbeiter am Band stand. Aras lernte die Sprache und engagierte sich politisch für die Belange der Migranten als Mitglied im damaligen Ausländerausschuss des Gemeinderats. 1997 übernahm er den Vorsitz des Forums, in dem mittlerweile 110 Mitgliedsvereine vertreten sind und das neben der Organisation des jährlichen Sommerfestivals der Kulturen auf dem Marktplatz Bildungs- und Antirassismusarbeit leistet.
Erste Station der von Aras geführten Tour unter dem Motto ‘Orte der Interkultur’ war das Institut français am Berliner Platz, wo die Kulturbeauftragte Johanne Mazeau-Schmid einen kurzen Einblick in das dortige Angebot gab. ‘Franzosen sind eigentlich irgendwie gar keine Ausländer mehr für mich’, so Michael Kienzle von der Stiftung Geißstraße. Und auch Aras berichtete, anders als für ihn spiele für seine in Deutschland geborenen Kinder das Thema Migrationsherkunft keine Rolle mehr: ‘Die fühlen sich als ganz normale Stuttgarter.’
Kienzles These, man habe sich bei der Suche nach Orten der Interkultur schwer getan, weil die Integration in Stuttgart schon so weit fortgeschritten sei, dass der Unterschied zwischen Menschen ausländischer Abstammung und Stuttgarter Eingeborenen kaum noch sichtbar werde, wurde auf dem Rundgang gleich mehrfach bestätigt. Etwa im Bistro ‘Pano’ im Gerber, dessen Betreiber das Konzept der Interkultur und des Neben- und Miteinanders der Kulturen sogar schon bei der Inneneinrichtung bedacht hat. Wer mag, kann Speisen und Getränke mit anderen zusammen an einem riesigen Tisch einnehmen und so ins Gespräch kommen. Der Betreiber hat türkische Wurzeln, ist aber in Franken geboren und könnte als waschechter Bayer durchgehen. Gleiches gilt für die Betreiberin der Paulinenapotheke im Gerber: Kalliopi Bamiatzi hat griechische Wurzeln, in ihrer Apotheke arbeiten Menschen portugiesischer, türkischer oder asiatischer Abstammung. Sie hatte sich einst – vom Traubenzucker des vormaligen Inhabers verführt – mit zehn Jahren zum Ziel gesetzt, selbst Apothekerin zu werden. Heute ist nicht nur das Personal interkulturell, sondern auch die Kundschaft. Zum Abschied gibt’s dann für die Teilnehmer ebenfalls ein Traubenzuckerle – gelernt ist gelernt.
Hinter vielen Fassaden in der City verbergen sich Geschäfte und Läden, die von Menschen aus anderen Kulturkreisen geführt werden. Und Aras kennt sie fast alle: den Juwelier aus dem Iran, den Inhaber eines Schuhgeschäfts aus der Türkei, Italiener, Spanier und Asiaten. Sie alle haben eines gemeinsam: Sie fühlen sich als Stuttgarter, so auch der Geschäftsführer eines Friseursalons an der Tübinger Straße, der die Integrationsministerin Bilkay Öney zu seinen Kunden zählt. Seine Wurzeln liegen in Mazedonien, er hat in Deutschland Abitur gemacht, Maschinenbau studiert und sich dann doch entschieden, der Familientradition treu zu bleiben und sich als Coiffeur selbstständig zu machen. ‘Können Sie denn ein bisschen schwäbisch?’, fragt ihn ein Teilnehmer in bestem Hochdeutsch augenzwinkernd. ‘Besser wie sie’, schwäbelt der Friseur zurück.
Die Bilanz des Stadtspaziergangs: Stuttgart profitiert in vielerlei Hinsicht von seiner kürzlich sogar von der New York Times in den höchsten Tönen gelobten Integrationspolitik – und manchmal sprechen Menschen mit ausländischen Wurzeln sogar besser schwäbisch als Einheimische mit norddeutschem Migrationshintergrund.