Alles, nur kein Angeber sein

von Pe­tra Most­ba­cher-Dix, 20.06.2016 – Stuttgarter Zeitung

Mein Stuttgart Frühjahr 2016: Schirmer

In ei­nem Dut­zend Jah­re hat er Stutt­gart er­obert, be­zau­bert, ge­zeigt, dass man in der gan­zen Stadt Thea­ter spie­len kann.“ Ei­ni­ge Be­su­cher ni­cken, als Mi­cha­el Kienz­le, Vor­sit­zen­der der Stif­tung Geiß­stra­ße, den ih­nen be­kann­ten Mann be­grüßt, der ne­ben ihm zu­rück­hal­tend lä­chelt: Fried­rich Schir­mer. Und der ist über­rascht, wie vie­le Men­schen sich an die­sem Sams­tag­mor­gen zum Stadt­spa­zier­gang ein­ge­fun­den ha­ben, den die Stif­tung Geiß­stra­ße mit der Stutt­gar­ter Zei­tung ver­an­stal­tet. „Das Stutt­gar­ter Pu­bli­kum ist im­mer für Über­ra­schun­gen gut“, sagt Schir­mer, der jetzt In­ten­dant der Würt­tem­ber­gi­schen Lan­des­büh­ne Ess­lin­gen ist.

Von 1993 bis 2005 Schau­spiel­di­rek­tor und In­ten­dant des Schau­spiels der Staats­thea­ter Stutt­gart, steht er nun wie­der vor dem „schöns­ten Schau­spiel­haus Deutsch­lands“, um von dort aus „sein Stutt­gart“ zu su­chen. „Das be­steht der­zeit aus Bau­stel­len“, be­dau­ert er. „Eber­hard-Hö­fe, Do­ro­the­en­quar­tier – Mak­ler­ly­rik.“ Ne­ben der enor­men Bau­gru­be von Stutt­gart 21 denkt er an Ham­burg, wo er zwi­schen 2005 und 2010 als In­ten­dant das Deut­sche Schau­spiel­haus lei­te­te. „Wenn die Elb­phil­har­mo­nie fer­tig ist, kos­tet sie statt 77 Mil­lio­nen rund ei­ne Mil­li­ar­de Eu­ro.“ Doch noch ge­be es kei­ne See­le, was drin­nen pas­sie­ren soll.

„In Stutt­gart kannst du al­les sein, nur kein An­ge­ber“, sin­niert er. Die Stadt sei ei­ne un­ter­schätz­te, ei­ne sich selbst un­ter­schät­zen­de, ob­schon im­mer gut dar­in ge­we­sen, Ta­len­te zu ent­de­cken. Durch die Klett-Pas­sa­ge geht es zur Bus­hal­te­stel­le ge­gen­über des Haupt­bahn­hofs. Die Fas­sa­de des Bo­natz-Baus ziert den Stutt­gar­ter Phi­lo­so­phen „G.W.F. He­gel“, ein Werk des Künst­lers Jo­seph Ko­suth: „. . . daß die­se Furcht vor der Furcht zu ir­ren schon der Irr­tum selbst war“. Schir­mer be­tont: „Das hat mir oft ge­hol­fen.“ Be­sucht ha­be er auch die le­gen­dä­re Buch­hand­lung Wen­de­lin Nied­lichs, mit dem er ei­nen li­te­ra­ri­schen Sa­lon aus der Tau­fe hob. Dort re­giert nun der Life Style. Doch das Café Weiß, nächt­li­cher Treff des En­sem­bles, gibt es noch. Wie­der zum Strip­club mu­tiert ist in­des der Mu­sik­club in der Nad­ler­stra­ße, in dem sich Re­gie­as­sis­ten­ten mit ei­ge­nen Pro­duk­tio­nen aus­pro­bie­ren konn­ten. „Zwi­schen 8 und 22 Uhr, be­vor die DJs auf­leg­ten“, er­in­nert sich Fried­rich Schir­mer.

Wich­ti­ge Or­te von Im­pul­sen sind für ihn das Fi­gu­ren­thea­ter FITZ, die Tri­büh­ne oder das Jun­ge En­sem­ble Stutt­gart. „Das JES ist mein ab­so­lu­tes Lieb­lings­thea­ter“, sagt Schir­mer. Des­sen In­ten­dan­tin, Bri­git­te De­thier, emp­fängt per­sön­lich die Stadt­spa­zier­gän­ger. Zu­sam­men mit Schir­mer und der Be­zirks­vor­ste­he­rin von Mit­te, Ve­ro­ni­ka Kienz­le, er­zählt sie, wie Stutt­gart end­lich 2002 ein Kin­der- und Ju­gend­thea­ter be­kam. „Ein Kampf, der be­reits in den 60ern be­gann“, so Schir­mer. Mo­ni­ka Kienz­le er­gänzt: „Ein par­ti­zi­pa­ti­ves Pro­jekt, hin­ter dem die Bür­ger stan­den. Hier war be­reits die See­le vor den Räu­men da, so ent­stand ein Kul­turare­al.“

Um in­ter­re­li­giö­se, in­ter­kul­tu­rel­le Ver­stän­di­gung ge­he es auch in der Stif­tung Geiß­stra­ße, sagt Mi­cha­el Kienz­le vor dem Hans-im-Glück-Brun­nen. „Ein Hans im Glück ist auch Frie­der Schir­mer.“ Der sieht das ähn­lich und lei­tet die Trup­pe zu­rück zum Ecken­see, wo er an das er­folg­rei­che Fes­ti­val Thea­ter der Welt 2005 an­knüpft. Des­sen künst­le­ri­sche Lei­te­rin Ma­rie Zim­mer­mann, Schir­mers 2007 ver­stor­be­ne Ehe­frau, über­zog für vier Wo­chen die Stadt mit Thea­ter. „Un­ser Ab­schied aus Stutt­gart“, so Schir­mer, wäh­rend er an ei­nen Ort spa­ziert, den der Schau­spie­ler Ul­rich Wild­gru­ber oft auf­such­te – Karl Donn­dorfs Schick­sals­brun­nen zwi­schen Opern­haus und Schau­spiel. „Aus des Schick­sals dunk­ler Quel­le rinnt das wech­sel­vol­le Los, heu­te stehst du fest und gross, mor­gen wankst du auf der Wel­le“ lau­tet die In­schrift. „Ein be­droh­li­cher wie tröst­li­cher Satz“, sagt Schir­mer und zählt Städ­te auf, in de­nen er am glück­lichs­ten war – „un­ter an­de­rem in Stutt­gart und Ess­lin­gen, wo al­les be­gann.“

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